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Wolfram Adolphi: Alles liegt nahe beieinander - Ein Streifzug durch die chinesische Geschichte (Teil 2)

 

In: Neues Deutschland vom 26.07.2008

 

Zhongguo (gesprochen: dschung guo) ist die chinesische Bezeichnung für China. Sie setzt sich zusammen aus den Begriffen Mitte (zhong) und Land, Reich (guo) – das Reich der Mitte. Der Name ist kein neuzeitlicher. Er stammt vielmehr aus der Zhou-Dynastie (etwa 1050 bis 256 v.u.Z.), die sich in ihrem späten Stadium (etwa 600 v.u.Z.) als »Zentrum der Zivilisation« sah. Bezugspunkt war in dieser Auffassung nicht die – noch unbekannte – Bevölkerung der übrigen Welt, sondern diejenige verschiedener zum heutigen China gehörender Reiche, die in ihrem Verhältnis zur kaiserlichen Zentralgewalt (damals in der Nähe des heutigen Xi’an ansässig) auch als Lehnsstaaten (vgl. »Chinas Geschichte« aus der Feder des von den Nazis vertriebenen namhaften deutschen Sinologen Wolfram Eberhard, erschienen 1948) bezeichnet werden. Der Name Zhongguo »wanderte« in der Folge zu verschiedenen chinesischen Machtzentren. In seiner heutigen Bedeutung als Bezeichnung des Gesamtstaates ist er gebräuchlich seit der Gründung der Republik China 1912 als Kurzform der Staatsbezeichnung Zhonghua Minguo. Auch heute, für die Staatsbezeichnung Volksrepublik China – Zhonghua Minzhu Gongheguo –, stellt er eine Kurzform dar. Woher die in vielen europäischen Sprachen verbreitete Bezeichnung China (französisch La Chine usw.) stammt, ist nicht endgültig sicher. Vermutet wird eine Herleitung aus der Qin-Dynastie (gesprochen: tchin; 221-206 v.u.Z.). Im Russischen heißt China Kitaj, was sich offenbar auf den im frühen China existierenden nordchinesischen Volksstamm der Kitan bezieht. Auch die in Europa zeitweilig üblich gewesene Bezeichnung Cathay geht wohl auf die Kitan zurück.

 

Schon in dieser kurzen Darstellung scheint auf, worin die Faszination der Beschäftigung mit China liegt. Egal, welche Frage man antippt: Immer muss man, um eine Antwort zu finden, einen »Geschichtsberg« von mehreren tausend Jahren erklimmen. Nun mag man einwenden, dass das natürlich auch in Europa und überall sonst der Fall ist. Aber nirgends sonst geht es um eine so lange Geschichte einer Kultur und Gesellschaft an demselben Platz. Der Amerikaner John K. Fairbank, ein anderer Großer aus der Sinologenzunft, hat das in seiner »Geschichte des modernen China« aus dem Jahre 1986 so formuliert: »Die atlantische Kultur Westeuropas und des amerikanischen Kontinents hat ihren politisch-kulturellen Schwerpunkt schrittweise nach Westen verlagert, von Athen nach Rom, dann nach Madrid, Paris, London und New York. Die entsprechende Bewegung in China ist nur ein paar hundert Kilometer weit gegangen, von Xi’an an der unteren Biegung des Gelben Flusses in südlicher Richtung nach Hangzhou und Nanjing, in nördlicher nach Peking. Alle historischen Stätten der viertausendjährigen Geschichte Chinas liegen nahe beieinander«“ Und das hat Konsequenzen für viele Bereiche des Lebens bis heute. Noch einmal Fairbank: »Inzwischen haben die zwei großen Einrichtungen, die den chinesischen Staat zusammenhielten – die herrschende Elite und die Schrift – dreitausend Jahre lang bestanden.«

 

Solche Sätze provozieren Widerspruch. China ist doch gar nicht so ein einheitlicher Staat gewesen. Für ein Drittel dieser viertausend Jahre war es in verschiedene Reiche geteilt, und auch während der anderen beiden Drittel war die Einheit oft nur eine formale. Kriegerische Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung, und was ist mit den Kriegen, sozialen Kämpfen und Revolutionen im 19. und 20. Jahrhundert? Ja, selbstverständlich, das muss alles viel differenzierter betrachtet werden, und die Wissenschaft tut das auch mit einer kaum noch zu überschauenden Literaturfülle. Und dennoch bleiben von herausragender Bedeutung Besonderheiten wie die, dass die Anschauungen und Lehren des Kongfuzi, des Konfuzius, der vor 2500 Jahren lebte (551-479 v.u.Z.), ein einigendes, bis in die Neuzeit reichendes Band bilden, und nicht verstehen kann man, dass das Andenken des so widerspruchsvollen Führers der Kommunistischen Partei Chinas Mao Zedong (Mao Tsetung, 1893-1976) mit Mausoleum und riesigem Bild am Tian’anmen, dem Tor des Himmlischen Friedens, in Ehren gehalten wird, wenn man keinen Begriff davon hat, dass die chinesischen Kaiser seit der Shang-Dynastie (etwa 1450-1050 v.u.Z.) immer weit mehr waren als „nur“ reale Herrscher. Sie wurden als tianzi (gesprochen: tiän-ds) betrachtet, als Himmelssöhne, die in sich die Funktionen von Staat und Kirche vereinten, moralische und militärische Führer waren und das gesamte soziale und politische Gerüst zusammenhielten. So lang und unerschütterlich war diese Tradition, dass es nicht wunder nehmen kann, wenn nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches 1911 auch die neuen »Staatslenker« Sun Yatsen (1866-1925), Tschiang Kaischek (Jiang Jieshi, 1887-1975), Mao Zedong und nach dessen Tod Deng Xiaoping (1904-1997) in gewisser Weise als tianzi galten.

 

In die Reihe der Beispiele für außerordentliche Kontinuität passt schließlich auch die Rolle der ganbu, der Kader, in der Gesellschaft. Die kommunistischen Parteien des 20. Jahrhunderts verstanden sich in der ganzen Welt als Kaderparteien, und die KP Chinas tut das bis heute. Auf jedem Parteitag wird die Rolle der Kader beschworen, werden den Kadern neue Aufgaben gestellt. Dass das in China immer noch so geht, hat auch mit dem historischen Gewachsensein des Kader-Begriffs zu tun. Schon seit der Han-Dynastie (206 v.u.Z.-220 u.Z.) wurde eine bürokratische Administration zur zentralistischen Beherrschung des großen Reiches gebildet, und wer als Beamter dazugehören wollte, hatte sich einem strengen Prüfungssystem zu unterziehen, das auch den Nachweis der Treue zum kaiserlichen Konfuzianismus einschloss. Die erste Silbe des Wortes ganbu bedeutet »fähig sein«. Der Kader in solcher Lesart also der Befähigte, der besonders Ausgebildete.

 

Wer über das Erbe Chinas spricht, muss natürlich auch an weltgeschichtlich bedeutende wissenschaftlich-technische Leistungen erinnern. Die drei großen Erfindungen, die die Geschichte Europas formten – der Buchdruck, der Kompass und das Schießpulver – wurden in China schon früher als in Europa gemacht, beim Porzellan ist es nicht anders. Und in der Neuzeit beweist sich, dass auch aus dieser Tradition Neues, Zukunftsfähiges erwächst.