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Wolfram Adolphi: Was heißt »sozialistisch«? - Ein Streifzug durch die chinesische Geschichte (Teil 4)

 

In: Neues Deutschland vom 09.08.2008

 

»Ist China eigentlich noch sozialistisch?« – Wo immer ich – jedenfalls in Ostdeutschland – mit Vorträgen zum Reich der Mitte unterwegs bin, wird mir irgendwann diese Frage gestellt. Und ich frage zurück: »Was heißt noch? Und was heißt sozialistisch?«

 

Denn dies ist eine der Fragen, die deutlich macht, wie sehr ein Nachdenken über China immer auch ein Nachdenken über uns selbst ist und sein muss. In der DDR (und in der Sowjetunion und ganz Osteuropa) ist 1989 ein Sozialismus zusammengebrochen, der mit Sozialismus im Sinne der im »Kommunistischen Manifest« gemeinten »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, (noch) nichts zu tun hatte. Wenn wir nun nach Sozialismus in China fragen: Was haben wir da im Sinn? Den DDR-Sozialismus, den man in der Diktion der SED als »Realsozialismus« bezeichnen könnte? Oder die im Manifest gemeinte Assoziation? Und weiter: Wenn die Frage lautet, ob China noch sozialistisch sei, dann steckt dahinter der Gedanke, dass China früher sozialistisch gewesen sein muss und sich jetzt irgendwie von diesem Stadium entfernt. Dann blickt man zurück in die Geschichte: in den »Großen Sprung« der Jahre 1958-1960 mit der darauffolgenden Hungersnot, in die »Große Proletarische Kulturrevolution« der Jahre 1966-1969 mit ihren ungezählten Todesopfern und ihren gesellschaftszerstörerischen Folgen – und darauf sollte sich dann dieses »noch sozialistisch« beziehen? Halt ein, sagen nun einige, diese Zeit meinen wir nicht. Was wir meinen, ist die Zeit von 1949 bis 1957, da gab es einen Fünfjahrplan der sozialistischen Umgestaltung und eine Generallinie des sozialistischen Aufbaus. Das stimmt, antworte ich, und dennoch stellt sich wieder die Frage: Welcher Sozialismus ist gemeint?

 

Aber wenn nicht Sozialismus – geht der Disput weiter –, dann ist es Kapitalismus? Obwohl die chinesische Führung unverändert von Sozialismus spricht? Ich verweise auf die interessanten Überlegungen, die Konrad Seitz, von 1995 bis 1999 deutscher Botschafter in China, in seinem Buch »China. Eine Weltmacht kehrt zurück« angestellt hat. Für Seitz handelt es sich im Falle Japans, der Sowjetunion und Chinas in vergleichbarer Weise um »Spätkommerkapitalismus«. Vieles spricht dafür, auch den DDR-Sozialismus als eine besondere Form des Staatskapitalismus zu beschreiben – mit einer politischen Klasse, die Herr über das Eigentum ist, und einem Volk, das nicht Eigentümer ist, sondern in von der politischen Klasse regulierten Ausbeutungsverhältnissen arbeitet.

 

Nun geht aber dieser Artikel nicht über die DDR, sondern über die Volksrepublik China, und darum schlage ich vor, für die Beschreibung des Gesellschaftssystems den Begriff shehuizhuyi (gesprochen: sche-chui [mit ch wie in »ach«] -dshu-yi) zu verwenden. Das ist der chinesische Begriff für »Sozialismus«, und er hat den Vorteil, dass wir ihm nicht, wie das beim Wort »Sozialismus« der Fall ist, all unsere eigenen Erfahrungen, Bilder, Vorstellungen und Visionen auflasten. Der Begriff shehuizhuyi steht ganz für sich, lässt Raum für die überaus aufstörende, widerspruchsvolle chinesische Realität.

 

Und diese Realität heißt: seit fast drei Jahrzehnten zweistellige Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts im Resultat einer bespiellosen Freisetzung der Marktkräfte; 250 Millionen Wanderarbeiter in den Fabriken und auf den Baustellen an der Küste im Osten; gewaltige Probleme in der Sicherung sozialer Standards, im Umweltschutz und in der Energieversorgung; Entstehung dynamischer Städte mit rasant sich entwickelnder Infrastruktur; Herausbildung von Zentren der Hochtechnologie mit weltweiter Bedeutung; Aufstieg in die Gruppe der drei führenden Exportländer (mit Deutschland und den USA); staatliche Eingriffe zur Abbremsung des Bevölkerungswachstums (seit 1979 Regelungen zur Ein-Kind-Ehe, die allerdings nicht für die nationalen Minderheiten gelten); Beschränkungen der Meinungs- und der Pressefreiheit; Festhalten an der Todesstrafe.

 

Geführt wird diese Entwicklung seit der Gründung der VR China am 1. Oktober 1949 von der Kommunistischen Partei Chinas, der KPCh. Ich plädiere hier für das gleiche begriffliche Verfahren wie im Falle von shehuizhuyi. Nennen wir die KPCh also gongchandang (gesprochen: gungtschandang). Befreien wir sie, die sich von ihrer Gründung 1921 an bis 1937 gegen den militanten Antikommunismus der guomindang – diese Partei ist übrigens seit jeher unter ihrer chinesischen Bezeichnung benannt – behaupten musste, im Zweiten Weltkrieg wesentlichen Anteil am Sieg über Japan hatte und 1946-1949 im Bürgerkrieg gegen die guomindang siegreich blieb, von unseren eigenen Erwartungen daran, wie eine kommunistische Partei in Deutschland sein müsste, und richten wir den Blick auf sie selbst. »Die Kommunisten«, schreibt Georg Blume in seinem Buch »China ist kein Reich des Bösen«, »haben in den letzten 30 Jahren weit über 400 Millionen Bürger vom Hunger und den täglichen Überlebensängsten befreit.« Und weiter: »Ansätze für einen Sozialstaat gibt es heute in China überall. So unkommunistisch sind die Kommunisten noch nicht, als dass sie die Sprengkraft der Klassengegensätze im Kapitalismus komplett unterschätzen würden.« Und noch ein drittes Zitat: »Die KP bändigt heute die strukturellen Gewalten eines explodierenden Kapitalismus, wie er sich in größerem Maßstab noch nie in der Geschichte entfalten konnte.«

 

Gongchandang: das ist der »Lange Marsch« 1934-1936, und das ist der Sieg der Revolution 1949; das ist der »Große Sprung«, und das ist die Kulturrevolution; das ist Mao Zedong und das ist Deng Xiaoping, der von Mao verfolgt worden ist und 1978 jenen Prozess in Gang setzte, der seither für Chinas Entwicklung so prägend geworden ist. Und gongchandang: das ist auch die wechselvolle Geschichte des Widerstands gegen die Instrumentalisierungsversuche von Seiten erst der Komintern, dann Stalins, schließlich auch Chruschtschows und Breshnews. Die gongchandang hat nicht nur diese Kämpfe überlebt; sie hat sich im Unterschied zur KPdSU (und zur SED – aber das nur am Rande) auch als fähig erwiesen, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts unumgänglich gewordene Transformation der Gesellschaft zu führen und zu gestalten.