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Wolfram Adolphi: Napoleon wusste es bereits - Ein Streifzug durch die chinesische Geschichte (Teil 6)

 

In: Neues Deutschland vom 23.08.2008

 

Besucht man eine der riesigen chinesischen Städte – sei es Beijing mit 12 Millionen, Shanghai mit 15 Millionen oder Chongqing (gesprochen: tschung tching; frühere deutsche Schreibweise. Tschungking) mit 8 Millionen Einwohnern (wobei die Zahlen sich auf die Ballungsgebiete der Städte beziehen; nimmt man die Verwaltungseinheit zur Grundlage, ist die Einwohnerzahl noch viel größer: in Beijing 16 Millionen, in Shanghai 18 Millionen, in Chongqing gar 32 Millionen, und dort auf einer Fläche, die so groß ist wie Österreich, das 8 Millionen Einwohner hat) –, wird man schnell in ein Chaos von Gefühlen gerissen. Über die Maßen beeindruckend ist die Fülle der Banken-, Hotel-, Verwaltungs- und Kaufhauspaläste, überraschend kühn und vielfältig die Architektur, verwirrend das Netz der vier- und sechsspurigen, dicht befahrenen Hochstraßen, atemberaubend der Anblick der Wohnsiedlungen mit 25- und 30-stöckigen Hochhäusern. Wenn man dann noch weiß, dass von dem, was man da sieht, vor 30, ja 20 Jahren fast noch nichts gestanden hat, nimmt das Staunen kein Ende. Und zugleich jagt es einem kalte Schauer über den Rücken: Wie viel Energie hier verbraucht wird an jedem Tag, wie viel Wasser, wie viele Nahrungsmittel, wie sehr die Luft in Mitleidenschaft gezogen wird und die Umwelt insgesamt, wie schwer es ist, das nötige Grundwasser zur Verfügung zu haben, und was aus all dem noch werden soll, wenn der Pro-Kopf-Verbrauch an Benzin, Energie, Wasser, Milch und Fleisch westeuropäische oder US-amerikanische Maßstäbe erreicht. Aus dem allgemeinen Gefühl dafür, dass die Ressourcen endlich sind und es nicht so weitergehen kann wie bisher, wird plötzlich ein ganz konkreter, Herz und Seele bedrückender Alb. Indien fällt einem ein, wo 1,1 Milliarden Menschen leben (in China sind es 1,25 Milliarden), Bilder aus Tokio, Seoul oder Taibei kommen einem in den Sinn oder aus Kairo, Mexiko, New York.

 

Und da wird klar, dass die Probleme Chinas nicht allein Chinas Probleme sind, sondern die der ganzen Welt, und nur als Weltprobleme können sie auch gelöst werden. Oder will man wirklich an der eigenartigen Auffassung festhalten, wonach in den USA oder in Deutschland in vielen Familien zwei Autos ganz selbstverständlich sind – und mindestens eines davon ruhig auch ein ausgesprochener Spritfresser sein darf –, die Motorisierung der Chinesen aber eine Bedrohung für die Menschheit darstellt? Glaubt man wirklich, die Chinesen lüden dadurch, dass sie mehr Milch und Fleisch als bisher verzehren, eine Schuld auf sich? Weshalb man in Westeuropa das Recht habe, mit den Fingern auf sie zu zeigen und ihnen jeden Engpass und jede Preiserhöhung in die Schuhe zu schieben? Und wenn im unerträglich heißen Chongqing massenhaft nach Klimaanlagen gerufen wird wie in New York seit Jahr und Tag – womit wäre gerechtfertigt, den Menschen in China etwas zu versagen, was die Menschen in den USA als selbstverständlich empfinden?

 

Erst jetzt, da die gern als »Schwellenländer« bezeichneten Staaten endgültig aus dem Stadium der »Unterentwicklung« aufbrechen und ihre Bevölkerungen Ansprüche entwickeln, wie sie »der Westen« ihnen seit langem vorgelebt hat – erst jetzt scheint in all seinen Ausmaßen klar zu werden, worauf Kommunisten und Sozialisten, universell denkende Bürgerrechtler und Humanisten, sozial orientierte Christen und Verfechter einer neuen Weltwirtschaftsordnung immer schon aufmerksam gemacht haben, womit sie aber noch nie gesellschaftliche Mehrheiten für sich gewinnen konnten: dass das System aus reichem Norden und armem Süden, aus Erster und Dritter Welt, aus Luxus hier und Hunger da keine Zukunft hat.

 

Aber noch immer verweigert sich der Westen jedem Ausgleich, jedem tatsächlich gemeinsamen Ringen um die günstigsten Lösungen für die Zukunft. Stattdessen entwickelt und hegt und pflegt er unter Nutzung eines gewaltigen Medienapparates Feindbilder. Vom Islam das eine, von der »gelben Gefahr« das andere. Das lenkt ab von der dringenden Notwendigkeit, das eigene System der hemmungslosen Ressourcenverschwendung und der gleichzeitigen Unterwerfung der Verfügung über Wasser und Luft unter private Profitinteressen in Frage zu stellen.

 

Und der Westen führt Kriege. In Afghanistan. Im Irak. Die Stätten dieser Kriege liegen an der Nahtstelle zwischen dem Westen und dem Osten der Welt. Es geht um das knapper werdende Öl, das Gas. Man müsste es teilen, neu und gerecht. Und in weltweiter Wissenszusammenführung neue Technologien entwickeln: für das Anderthalb-Liter-Auto; für effiziente Solarenergie; für saubere Transportsysteme auf Schienen und Flüssen; für regionale Produktions- und Versorgungskreisläufe; für eine umweltfreundliche, Ressourcen schonende und zugleich den Hunger überwindende Landwirtschaft. Aber wer so etwas vorschlägt, gilt als belächelnswerter Phantast. Und die »Realisten« schreiten – wie schon immer in der Geschichte des westlichen Kapitalismus – zum Kampf, zum Krieg. Nur so ist ihnen die Welt vorstellbar.

 

China beteiligt sich bisher nicht an diesem Spiel. »In Peking«, schreibt Georg Blume in seinem schon zitierten Buch »China ist kein Reich des Bösen«, »regieren heute keine Strategen, die nur auf eine Gelegenheit warten, ihre neu gewonnene Macht mit einem Krieg zu beweisen.« Warum nicht diese Situation als außerordentlich positiv annehmen? Warum nicht als riesige Chance, die Welt endlich als Ganzes zu sehen und zu bewahren?

 

Hier schließt sich der Kreis auch zu den Minderheitenproblemen in China. Auch deren Lösung hängt am Ende davon ab, ob in der Welt auf Konfrontation oder auf Zusammenarbeit gesetzt wird. Der Krieg in Afghanistan ist für China nicht nur bedrohlich, weil es ein Krieg des Westens um Welteinfluss und Ressourcen ist, sondern auch, weil Afghanistan direkt an China grenzt. Gewiss, es ist nur ein schmales Stück gemeinsamer Grenze – aber man stelle sich für eine einzige Sekunde eine chinesische Armee an einem Grenzzipfel der USA vor … Und die Tibetfrage ist für die Führung in Beijing natürlich verknüpft mit der Frage der islamischen Minderheit in Chinas Nordwesten.

 

Feindbild China, Druck auf China, Versuche, China mit der Minderheitenfrage in die Enge zu treiben – all das schadet nicht nur China, es schadet der Welt. »Wenn China sich erhebt, wird die Welt erbeben« – es ist Napoleon, dem dieser Spruch zugeschrieben wird. Dem Beben ist durch Konfrontation nicht beizukommen.