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Wolfram Adolphi: Peking – drei Jahrzehnte später. Selbstgespräche mit dem Zeitgeist anlässlich eines Wiedersehens mit Chinas Hauptstadt

 

in: Neues Deutschland, Berlin, 26./27. April 2008, S. 25

 

Schon die Ankunft ist atemberaubend. Unser Airbus 340 dockt am Terminal 3 des Pekinger Flughafens an, und der ist funkelnagelneu. Ein riesiges, aus zehntausenden flachen, sich kreuzenden Stahlbändern zusammengefügtes und auf einer erstaunlich kleinen Zahl schlanker Säulen ruhendes Dach wölbt sich über die ungezählten Einreiseschalter, über Restaurants und Ladenzeilen. Man wähnt sich unter einer luftig-leichten Bambuskuppel, und eine freundliche Gelassenheit breitet sich aus.

Die wird verstärkt durch die Freundlichkeit von Beamtinnen und Beamten. Als die Schlangen an der Einreise für Ausländer zu lang werden, werden wir an die Schalter für Inländer gebeten. An jeder Passkontrolle steht eine elektronische Anzeige mit der Dienstnummer dessen, der hinter dem Schalter sitzt, und man kann Knöpfe drücken mit einem lächelnden oder einem traurigen Gesicht: je nachdem, wie man das gerade Erlebte – die Kontrolle der Einreisepapiere eben – bewerten will.

Terminal 3 ist im Moment das größte aller Abfertigungsgebäude der Welt. Mit ihm wuchs die Jahreskapazität des Flughafens von 35 auf 60 Millionen Passagiere. Der Architekt des Wunderwerks ist in Deutschland kein Unbekannter: Sir Norman Foster, der uns in Berlin die erstaunliche Verwandlung des alten, dunklen Reichstages in ein glaskuppelbekröntes, helles und transparent wirkendes Bundestagsgebäude beschert hat.

Mit einem automatisch betriebenen, auf Gummirädern und Betonschienen rollenden Shuttle geht es in die Haupthalle. Dort wiederholt sich das Bild von Weitläufigkeit, Großzügigkeit und Freundlichkeit – nur dass die Spannweite dieses Daches noch größer ist. Es ist, als ob die Stadt ihre Gäste schon hier auf ihre Größe und Weite einstimmen und davon überzeugen will, dass man eingerichtet ist auf einen rasant wachsenden Besucherstrom und darauf, diesen Strom mit Herzlichkeit willkommen zu heißen.

Im Taxi, das uns für umgerechnet 12 Euro ins 25 Kilometer entfernte Stadtzentrum bringt, kriecht mir der Zeitgeist – der westliche – unter die Mütze und versucht mir klar zu machen, dass ich meinem freudigen Erstaunen nicht so ohne weiteres freien Lauf lassen darf. Ist die Freundlichkeit der Leute nicht eine organisierte, befohlene? Gegründet auf nichts als die Berechnung, ein schönes Bild von einem Land zu zeichnen, das gar nicht schön ist? Darf ich mich freuen, obwohl es die Unruhen in Tibet gibt? Ja, hätten die Gefährtin und ich die Reise zu diesem Zeitpunkt überhaupt antreten dürfen?

Dieser Zeitgeist, weiß ich, hat die Kraft, uns ganz in seinen Bann zu schlagen. Aber was sagt und will er eigentlich? Gesetzt den Fall, ich wäre nicht in Peking, sondern in London gelandet: Verlangte er dann von mir, mein Staunen über die Pracht von Altem und Neuem zurückzunehmen oder gar die Reise selbst in Frage zu stellen, weil Großbritannien an den Kriegen in Afghanistan und Irak beteiligt ist? Nein, das täte er nicht – obwohl diese Kriege eine ungleich größere Dimension an Opfern und Zerstörung haben als der Tibet-Konflikt.

Unerfüllte Wünsche

Unser Taxi passiert auf vierspuriger Autobahn die ersten Pekinger Wohnviertel. Immer wieder tauchen aus dem dunstigen Smog, den die Sonne nur manchmal zu durchbrechen vermag, Gruppen von dreißig- und vierzigstöckigen Wohntürmen auf; dazwischen Hotels und Firmenzentralen. Vor 30 Jahren, im März 1978, bin ich das erste Mal hier entlang gefahren - im »Wartburg«, mit dem mich, den Praktikanten, ein Mitarbeiter der DDR-Botschaft abgeholt hatte. Da war hier bäuerliches Land gewesen mit Feldern und ebenerdigen, ummauerten Häusern und Hütten, und die Straßen wurden nicht von Autos beherrscht, sondern von Fahrrädern, Pferde- und Eselkarren. Von Smog, dem Ausfluss überhitzter Industrialisierung, Motorisierung und Urbanisierung, war noch nichts zu spüren.

Und der westliche Zeitgeist – wie wollte er damals, dass China sich entwickeln möge? Und einer wie ich das Land zu betrachten habe?

Es gab solcher Zeitgeister mindestens zwei. Im »sozialistischen Lager« wünschte man sich Gemeinsamkeit zwischen China und der Sowjetunion, wünschte sich Stärkung des Sozialismus dergestalt, dass wirtschaftliche Beziehungen endlich wieder normal werden würden, wie auch der Wissenschaftleraustausch, an dessen Neubeginn ich sogar teilhaben durfte als Student am Pekinger Sprachinstitut. Ein Ende der »kulturrevolutionären« Zustände wünschten wir uns. Und was sollte darauf folgen? Der chinesische Weg lag in jenem März noch im Dunkeln, und die Wunden, die man sich gegenseitig geschlagen hatte, waren tief - aber die schwarz-weiß malenden und besserwisserischen offiziellen Erklärungen und halboffiziellen Texte von KPdSU und SED waren wenig geeignet, Licht ins Dunkel zu bringen oder gar einer Gemeinsamkeit von Gleichen auf den Weg zu helfen.

Und die herrschenden Politiker des Westens? Sie, natürlich, wollten etwas ganz anderes als diesen »shehuizhuyi«, diesen chinesischen Sozialismus. Aber vorderhand war ihnen China als Instrument des Kampfes gegen die Sowjetunion wichtig, und dahinter hatte vieles – übrigens auch die Tibet-Frage – zurückzustehen.

Und 30 Jahre später? Alle sowjetisch-osteuropäischen Hoffnungen auf eine gemeinsame Sozialismusentwicklung sind – des eigenen erbärmlichen Scheiterns wegen – perdu. Und die westlichen Wünsche hinsichtlich des freien, ungehemmt sich ausbreitenden, alles beherrschenden Marktes? Sie haben sich offensichtlich erfüllt – wenn auch auf andere Weise als im Westen gedacht. Nicht willfähriger Markt für westliche Produkte ist das Land geworden, sondern mächtiger Konkurrent.

Drachen am Tian'anmen

Unser Taxi rollt auf der Chang'an Dajie, Pekings 40 Kilometer langer Ost-West-Magistrale. Auch hier vielspuriger Autoverkehr. Und wie ich sie dicht an dicht an mir vorbeiziehen sehe, die Paläste der neuen Welt – Ministerien, Hotels, Kaufhäuser, Einkaufs- und Vergnügungsmalls, einige langweilig, andere phantasievoll und abwechslungsreich in der Struktur der Glasfassaden und der Verwendung von Elementen klassischer chinesischer Architektur –, bin ich meinen Berliner Lehrerinnen und Lehrern aus der Humboldt-Universität der 70er Jahre dankbar dafür, dass sie es unternommen haben, mir den Blick zu öffnen dafür, was die Chinesen denn vielleicht selbst vorhaben auf dieser Welt. Wie es aussieht, ihr wirkliches Leben, und aus welchen Antrieben, Standpunkten, Wünschen und Hoffnungen es sich speist – und wie es sich vor diesem Hintergrund verhält mit allem Zeitgeist von anderswo.

Zu danken habe ich auch meinen Chinesischlehrern in Berlin und Peking. Denn wie sonst könnte ich jetzt mit Chinesen in ihrer Sprache plaudernd über den riesigen, durch die Ereignisse des Juni 1989 so dramatisch geprägten Platz am Tian'anmen, dem Tor des Himmlischen Friedens, spazieren? Viele Tausende tun es uns gleich. Eine freudige Grundstimmung prägt das Bild, man fotografiert sich vor den weltbekannten alten und neuen Gebäuden: vor dem Tor des Himmlischen Friedens mit dem mächtigen Mao-Porträt, vor dem Mao-Mausoleum, vor dem Denkmal für die Volkshelden, vor der Großen Halle des Volkes und vor dem Revolutions- und Geschichtsmuseum, das gerade zum Nationalmuseum umgewandelt wird und vom deutschen Architekturbüro Gerkan und Partner (den Schöpfern des Berliner Hauptbahnhofs) eine neue Gestaltung der Innenräume und des Daches erfährt.

Ein junger Mann verkauft große bunte Drachen, die andere auch sofort steigen lassen. Überall gibt es kleine Stände, an denen Olympiamaskottchen feilgeboten werden. Das alles wirkt so normal - aber wie sehr unterscheidet es sich von dem, was vor 30 Jahren war! Stieg ich damals in einen Bus, räumten die Menschen ein ganzes Viererabteil für mich frei, um nicht dem Verdacht ausgesetzt zu sein, verbotene Kontakte zu Ausländern zu unterhalten. Jetzt sind wir unentwegt im Gespräch - mit Leuten aus den Provinzen Hebei und Hunan ebenso wie aus dem fernen Xinjiang. Ausdruck von selbstverständlicher Reisemöglichkeit, von freien Tagen und kleinem Wohlstand.

Später sind wir auf dem Weg in die Berge, zur Großen Mauer, und die Straße ist gesäumt von Ferienresorts. Zur kühn von Gipfel zu Gipfel sich schwingenden Mauer führen Seilbahnen empor, und den Weg hinunter kann man per Sommerrodelbahn bewältigen. Wie undenkbar dies alles vor nur 30 Jahren. Und wie gewaltig der Wandel von der blauen und olivgrünen Alltagskluft zu dem, was heute in Peking getragen wird an Kleidern, Kostümen und Anzügen.

Wer kennt die Lösung?

Aber hast du nicht – meldet sich diesmal nicht der Zeitgeist, sondern die kritische Stimme in mir selbst zu Wort – die ebenso unglaubliche Verschärfung der sozialen Widersprüche registriert? Als du unter der hoch aufgeständerten Fahrbahn des im Bau befindlichen sechsten Autobahnrings die Wanderarbeiter gesehen hast mit ihrer primitiven Ausrüstung und den vorsintflutlichen Unterkünften? Hat dir der Anblick der Armen in den verbliebenen Altstadtvierteln und vor den zum Abriss freigegebenen Hütten im Schatten der Hotel- und Kaufhauspaläste nicht den Atem verschlagen?

Ja, er hat. Wie in anderen großen Städten dieser Welt auch. Peking hat – anders als in der »Kulturrevolution« – heute die ganz normalen Probleme des kapitalistischen Marktes; und China die der multiethnischen Staaten.

Es ist ein banaler Satz, der mir am Tian'anmen wieder in den Kopf kommt, aber er ist richtig: Wir alle haben eine Menge Probleme in dieser Welt. Wir alle. Und keiner hat wirklich eine Lösung parat. Noch völlig unklar ist der Weg, wie man das Schneller-Höher-Weiter in Wirtschaft und Markt mit seiner fatal sich vertiefenden Kluft zwischen Oben und Unten und der Zerstörung der Natur stoppen kann, bevor es in Selbstvernichtung endet. Weltweit gemeinsames Nachdenken und Handeln sind das Gebot der Stunde. Und da – ganz gewiss – sind zwei »Lösungs«-Varianten völlig untauglich. Der »heiße« Krieg, aber auch seine »kalte« Variante, wie sie der westliche Zeitgeist gerade wieder gegen China in Gang gesetzt hat. Gerade jetzt, da die olympische Begegnung helfen könnte, zu neuen, gemeinsamen Einsichten zu gelangen.